Station 2 – Lager Kinzigdamm
„Ob wir sie noch erkennen könnten, wurden wir gefragt“
Station 2 als Audioguide
Wohin mit den vielen Häftlingen?
Das Lager Kinzigdamm wurde im Sommer 1944 von dienstverpflichteten Fremdarbeitern aus Holland in der Nähe der Kinzigbrücke Richtung Fischerbach errichtet. Ursprünglich sollten sie als Unterkunft für Arbeiter der Grafenstaden Maschinenbau AG zum Einsatz im Lokomotiven-Instandsetzungswerk in der Nähe des Haslacher Bahnhofes dienen.
Jedoch wurden die Baracken am 10. Dezember 1944 als Notlager für ca. 300 neu ankommende Häftlinge genutzt. Als die Gefangenen den Haslacher Bahnhof erreichten, wusste zunächst niemand, wo sie unterzubringen seien. Deshalb schickte man sie zunächst ins bereits überfüllte Lager Vulkan. Doch die dortige Lagerleitung weigerte sich weitere Häftlinge aufzunehmen. Sie empfahl der begleitenden Wachmannschaft die Häftlinge zu erschießen. Die Wachleute hielten sich jedoch nicht an diesen Rat; so wurden die Gefangenen wieder zurück in die Stadt geführt, wo die Männer zunächst in der Rathaushalle festgehalten wurden. Im Laufe der Nacht verlegte man den Großteil der Häftlinge in die Baracken am Kinzigdamm: Das dritte Haslacher Lager war entstanden.
Die Schrecken des Lagerlebens
Einige Hätlinge des Kinzigdamms wurden zur Arbeit in diversen Haslacher Fabriken und Handwerksbetrieben verpflichtet, wie z. B. bei ortsansässigen Bäckern und Metzgern. Diese Arbeitsstellen waren unter den Zwangsarbeitern sehr begehrt, weil sie in der Regel bessere Bedingungen versprachen. Für die meisten jedoch ging es jeden Morgen „in das nächtliche Dunkel. Über die Brücke hinweg, durch einen Teil [der Stadt] hindurch, dann […] in die Berge hinein. Es war derselbe Weg, den wir schon einmal gemacht hatten, zum Grat [Vulkan] hin. Eine mühsame Kletterpartie. Während eines Ausflugs würde man sich oben angekommen erst mal eine Weile lang ausruhen. Aber jetzt wurde jedem Pickel und Spaten in die Hand gedrückt: Los!“
Obwohl das Lager Kinzigdamm das kleinste Haslacher Lager war, beschreibt der niederländische Überlebende Henk Saakesdie Situation folgendermaßen: „Neben Krankheit, Unterernährung und Misshandlung gab es noch eine vierte Todesursache: Seelische Zermürbung.“ Als neben einer Läuseplage die Ruhr im Lager ausbrach, wurden die Verhältnisse unerträglich.
„Die Tonne im Vorraum, die nachts, wenn die Tüen nach draußen verschlossen waren, als WC dienten, reichten nicht mehr aus. Pflichtbewusst ging man doch hin, stolperte über die Beine der Schlafenden und entleerte sein Gedärm über einer Tonne, die schon bis zum Rand voll war. Der Inhalt lief in den Raum hinein, unter die Holzwolle und die Schläfer. Viele von uns hatten, so wie ich auch, erfrorene Zehen, und sie schmerzten schon dann, wenn man sie nur berührte. Die Lauferei zur Tonne hinderte jeden am Schlaf, und in der gereizten Stimmung kam es zu zahllosen Streitigkeiten. Um vier, halb fünf ertönte das gellende Pfeifen, das einen aus dem Halbschlaf herausriss und einen zwang sofort aufzustehen, wenn man verhindern wollte, dass der Knüppel auf den ausgemergelten Körper niedersauste.“
Neben Entbehrung und Not herrschten Willkür und Brutalität
Bei Arbeitskommandos außerhalb des Lagers boten sich immer wieder Gelegenheiten zur Flucht. Wer jedoch versuchte dieser unmenschlichen Behandlung zu entgehen, musste bitter dafür bezahlen. Saakes erinnert sich, dass eines Tages ein paar Männer verschwunden waren:
„Während des Appells kam dann alles ans Licht. Fünf menschliche Wesen wurden uns vorgeführt. Ob wir sie noch erkennen könnten, wurden wir gefragt, aber an den Fleischklumpen, die einmal Gesichter gewesen waren, gab es nicht viel zu erkennen. Zitternd identifizierte ich den einen oder anderen an seiner Kleidung oder Haltung. […] Sie waren im Wachlokal vorbehandelt worden, um uns als Abschreckung zu dienen. Das waren also die Folgen eines Fluchtversuchs.“
Die Wachleute herrschten in ihrem Machtbereich völlig willkürlich und legten im Umgang mit den Häftlingen eine ungeheure Brutalität an den Tag. So wurde ein spanischer Zwangsarbeiter, der sich gegen eine ungerechte Bestrafung zur Wehr setzen wollte, kurzerhand erschlagen. „Der tote Spanier wurde einige Tage bei unserer Baracke zur Schau gestellt. [Der Wachmann] erhielt eine Disziplinarstrafe, aber nicht für das Totschlagen, sondern deswegen, weil er sein Gewehr als Schlagwerkzeug benutzt hatte.“
Dieser menschenunwürdigen Behandlung fielen zwischen Dezember 1944 und März 1945 16 junge Männer zum Opfer. „Am 1. März 1945 wurden diejenigen, die noch nicht so weit waren, dass man sie ab- schreiben konnte, auf Lastwagen [zum Arbeitseinsatz nach Sulz] geladen. Diejenigen, die zu schwach waren, blieben zurück. Von den dreihundert Männern, die in Haslach vor nicht einmal drei Monaten angekommen waren, zog nur noch die Hälfte los.“ Am 9. April 1945 wurden die restlichen Gefangenen freigelassen bzw. vorübergehend in Haslacher Betrieben oder Bauernhöfen untergebracht.
Heute befinden sich auf dem Gelände des ehemaligen Lagers Gärten – diesen ist ihre grausame Vorgeschichte nicht mehr anzusehen.